Entstehung und Facetten des Islamismus

Wie unterscheiden sich Islam und Islamismus voneinander? Welche Formen des Islamismus gibt es in Deutschland und wie haben sie sich entwickelt? Welchen islamistischen Akteuren begegnen Kommunen konkret – insbesondere in Baden-Württemberg? Und vor allem: Welche Handlungsansätze kann man Kommunen und Engagierten an die Hand geben, um extremistischen Entwicklungen präventiv zu begegnen und junge Menschen im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu halten? Diese und weitere Fragen waren Thema der Abendveranstaltung „Islamismus in Deutschland – Ausprägungen und Handlungsansätze“ am 13. November 2025 im Tagungszentrum Hohenheim. Neben Vor-Ort-Teilnehmenden waren zahlreiche kommunale Mitarbeitende aus ganz Baden-Württemberg online zugeschaltet.

Mit zwei Vorträgen sollte sowohl der historisch-theologische Unterbau des Islamismus durch den Politik- und Islamwissenschaftler Tim Florian Siegmund erschlossen als auch die konkreten Erscheinungsformen und Handlungsmöglichkeiten in Baden-Württemberg durch den Islam- und Religionswissenschaftler Karim Saleh dargestellt werden. Die Moderation übernahm dabei der Fachbereichsleiter Dr. Christian Ströbele.

Gleich zu Beginn des ersten Vortrags über die Geschichte und theologischen Grundlagen des Islamismus betonte Referent Siegmund die Notwendigkeit präziser Begriffsdefinitionen. Islamismus sei vor allem als ein Phänomen der Moderne zu sehen, das erst etwa 100 Jahre alt ist, und bezeichne nach Tilman Seidensticker „Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft, von Rechtsstaat und Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden“. Dies bedeute konkret, dass der Islamismus den Islam zum einzigen gesellschaftlichen Gestaltungsmodell erhebt und damit ideologisiert. Die klare Unterscheidung zwischen Islam als Religion mit ihrer jahrhundertealten Vielfalt und Islamismus als politischer Ideologie sei fundamental – nicht zuletzt, um Muslimfeindlichkeit nicht Vorschub zu leisten.

Die historische Entstehung des organisierten Islamismus führte Siegmund auf die Gründung der Muslimbruderschaft 1928 in Ägypten zurück. Der Kolonialismus, wirtschaftliche Missstände und das Gefühl verlorener Größe bildeten den Nährboden für das rasche Anwachsen der Bewegung. Darüber hinaus entstanden weitere islamistische Gruppierungen, die unterschiedlich eingeteilt werden müssten: Während einige Gruppen einen sogenannten „legalistischen“ Islamismus vertreten, d.h. nach einer Umgestaltung der Gesellschaft innerhalb der bestehenden Rechtsordnungen streben (z.B. Muslimbruderschaft), existieren auch der politisch-missionarisch orientierte Salafismus sowie der gewaltsame Dschihadismus (z.B. Al-Qaida, IS). Wichtig sei dabei die Erkenntnis, dass der puristische Salafismus noch von der Religionsfreiheit gedeckt sei, während extremistische Formen diese Grenze überschritten.

Im zweiten Vortrag des Abends zeigte Karim Saleh auf, dass von den rund 800.000 Muslim:innen in Baden-Württemberg laut aktuellen Daten des Verfassungsschutzes nur ca. 4.020 Personen dem islamistischen Spektrum zugeordnet werden. Im Vergleich zu der Gesamtzahl der Muslime:innen in Baden-Württemberg stellt dies einen sehr geringen Anteil dar. Die größten Gruppen bilden die IGMG (ca. 1.500) und salafistische Bestrebungen. Die Zuordnung zum islamistischen Personenkreis sei damit jedoch nicht gleichzusetzen mit Gewaltbereitschaft. Auch könne von der Nennung eines Dachverbandes, wie bspw. der IGMG, nicht ohne Weiteres auf islamistische Bestrebungen bei den einzelnen zugehörigen Gemeinden und Gemeindemitgliedern geschlossen werden. Aus diesem Grund sollten Kommunen, die sich für eine Zusammenarbeit mit z.B. einer IGMG-Gemeinde interessieren, Informationen u.a. bei Sicherheitsbehörden einholen. So lasse sich feststellen, ob konkrete Verdachtsmomente gegen die betreffende Gemeinde vorliegen. Bei Gruppen wie den türkischen Rechtsextremisten der Grauen Wölfe sei allerhöchste Vorsicht geboten.

Auch wenn die Personenzahlen vielleicht gering erschienen, warnte Saleh vor Verharmlosung: Die geringe Zahl organisierter Islamisten sage zum Beispiel nichts über die Reichweite extremistischer Inhalte im Internet aus. Deren scheinbar endlose Bandbreite benannte Saleh als größte und kaum kontrollierbare Gefahr. Es handelt sich zum Beispiel um salafistische Online-Prediger, die in perfektem Deutsch, jugendgerecht und zu allen Alltagsfragen Antworten liefern – von „Darf ich Fortnite spielen?“ bis zu theologischen Grundsatzfragen. Plattformen wie TikTok ermöglichten eine Radikalisierungs­geschwindigkeit wie nie zuvor. Junge Menschen, die sich in klassischen Moscheegemeinden nicht abgeholt fühlten, fänden hier simple Schwarz-Weiß-Antworten auf komplexe Fragen.

Die Gründe der Radikalisierung, insbesondere von Jugendlichen und Heranwachsenden, liegen laut beiden Referenten vor allem in Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Muslimfeindlichkeit. Insbesondere das Gefühl mangelnder Zugehörigkeit bilde einen Nährboden für Radikalisierung. Saleh formulierte dazu drastisch: „Seit dem 11. September 2001 gibt es kein Tabu mehr über den Islam oder die Muslime:innen in Deutschland. Alles kann gesagt werden.“ Junge Menschen, die sich systematisch ausgegrenzt fühlen, dazu womöglich noch sozial und wirtschaftlich benachteiligt, seien besonders empfänglich für islamistische Narrative, die ihnen Anerkennung und Identität böten.

Als mögliche Handlungsansätze gaben die beiden Referenten den Kommunen und Verantwortungsträgern unterschiedliche Maßnahmen an die Hand: Einerseits müssen problematische Äußerungen und Aktionen einzelner Gemeinden und Vereinen klar benannt und eine rote Linie gezogen werden. Gleichzeitig sollte aber die grundsätzliche gesellschaftliche Zugehörigkeit der muslimischen Mitbürger betont und Fälle von Muslimfeindlichkeit ernstgenommen werden. Insbesondere seien Moscheegemeinden mit funktionierender Jugendarbeit wichtige Präventionsräume und könnten wertvolle Partner sein. Auch die oftmals kontrovers diskutierten und geforderten Distanzierungen von islamistischen Anschlägen durch muslimische Organisationen könnten, so ein Plädoyer in der Diskussion, hilfreich sein, um Missverständnisse zu vermeiden.

Für die Zukunft zeichnete Saleh abschließend eine besorgniserregende Dynamik nach: So habe der Umgang mit dem Gaza-Krieg Vertrauensgrundlagen beschädigt: Eine nennenswerte Zahl junger deutscher Muslime:innen, die sich bisher in der Mitte der Gesellschaft verorteten, sehen ihre Zukunft nicht mehr in Deutschland. Personen ohne Ressourcen zur Selbstbehauptung seien besonders anfällig für extremistische Angebote. Gleichzeitig gebe es aber auch Hoffnung: Junge engagierte Muslime:innen schaffen, gerade auch abseits klassischer Strukturen, neue kulturelle Räume und Begegnungsorte.

Die beiden Vorträge machten schlussendlich deutlich, dass das Thema Islamismus nicht nur aus sicherheitspolitischer, sondern auch aus gesellschaftspolitischer und sozialer Perspektive betrachtet werden muss. Die größte Herausforderung liegt nicht in der – für sich genommen eher kleinen – Zahl organisierter Islamisten, sondern vor allem auch in der Reichweite extremistischer Online-Inhalte und in gesellschaftlichen Ausgrenzungserfahrungen, die junge Menschen in die Arme von Extremisten treiben können. Es reicht deshalb nicht, erst die gefährlichsten Auswüchse zu verhindern. Vielmehr muss dem Phänomen von Grund auf Abhilfe verschafft werden, indem die Weichen so gestellt werden, dass junge Menschen gar nicht erst radikalisiert werden. Dies erreiche man vor allem durch Teilhabe, Anerkennung, das Mitgestalten Gestalten von Gesellschaft und eine gemeinsame Orientierung am Gemeinwohl.

Die Veranstaltung fand im Rahmen des Projektes „Islamberatung Baden-Württemberg“ statt, das an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart angesiedelt ist und vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration aus Landesmitteln des Landes Baden-Württemberg gefördert wird.

Dominic Scheim